Foto: Henning Rosenbusch

Vortrag von
Landesbischof Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm

anlässlich der Einweihung des Förderzentrums
für Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderungen
in Coburg am 12. Oktober 2016

Lebensrecht des Menschen – Wert des Lebens

Liebe Festversammlung,

der heutige Einweihungstag ist ein Tag der Freude und er ist ein Fest des Lebens. Denn dieser Ort ist ein Ort prallvollen Lebens. In den Grußworten ist deutlich geworden, wie viele Möglichkeiten dieses Förderzentrum bietet, damit Menschen ihren Fähigkeiten und Begabungen gemäß am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Es gibt viele Wege zur Inklusion. Welcher der beste ist, darf sich nicht an institutionellen Interessen oder vorgefertigten Meinungen entscheiden, sondern muss einzig und allein an denen orientiert werden, um die es geht. Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen Förderbedarf haben, die alle miteinander Persönlichkeiten sind und als diese Persönlichkeiten am gesellschaftlichen Leben teilhaben sollen.

In meiner Arbeit in der Ahorner Wefa habe ich viele solcher Persönlichkeiten kennen gelernt. Es war ein wunderbarer Arbeitsplatz. Ein Ort prallvoll mit Leben, an dem umarmt, gelacht und manchmal auch richtig heftig gestritten wurde – eben mitten aus dem Leben. Es hat mir viel bedeutet, dass einer der Menschen, die ich dort kennengelernt habe, Gaby Zahn, mir bei meiner Einführung als Landesbischof vor fast genau 5 Jahren als Assistentin den Segen Gottes mit auf den Weg gegeben hat. Ich spüre ihn bis heute.

Wenn ich heute über das Lebensrecht des Menschen und den Wert des Lebens spreche, dann tue ich das deswegen nicht zuallererst, um ein Lebensrecht zu verteidigen, das trotz der Belastungen, die damit verbunden sind, nicht in Frage stehen darf. Sondern ich tue es auf dem Hintergrund der eigenen Erfahrung des Reichtums, den wir verlieren würden, wenn es die Vielfalt der menschlichen Persönlichkeiten, wie ich sie in der Wefa erlebt habe und wie wir sie hier im Förderzentrum erleben, nicht mehr gäbe.

Dennoch gibt es Grund, gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Tendenzen den Wert des Lebens und den Wert des Menschen zu verteidigen. Deutlich zu machen, dass von der „Würde des Menschen“ zu sprechen, bedeutet, dass der Mensch nie nur Mittel zum Zweck sein kann, sondern immer zugleich „Zweck an sich“ ist. Der große Philosoph Immanuel Kant hat das einmal in einer Weise auf den Punkt gebracht, die hochaktuell ist: Alles hat “entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.” Kurz gesagt: Menschenwürde heißt, dass menschliches Leben so kostbar ist, dass es mit keinem Geld der Welt gekauft werden kann. Menschenwürde heißt, dass menschliches Leben nie als Ware behandelt werden kann, für die irgendein Gegenwert festgesetzt werden kann.

Das erste, was daraus folgt, dass der Wert des Menschen nie nach seinem ökonomischen Nutzen bestimmt werden darf. Angesichts einer gesellschaftlichen Entwicklung, die immer stärker die Effektivität und die ökonomische Produktivität betont, ist das keine Selbstverständlichkeit. Es ist deswegen ein echtes Statement, wenn in dieses Förderzentrum hier in Coburg viel Geld investiert worden ist und in die Arbeit, die hier geleistet wird, weiterhin viel Geld investiert wird. Ich danke all denen, die dieses Geld zur Verfügung stellen, allen voran der Bezirk Oberfranken, heute ausdrücklich dafür. An der Frage, ob für Fördereinrichtungen wie diese das notwendige Geld zur Verfügung gestellt wird, entscheidet sich, ob wir das große Wort von der Würde des Menschen in Gesellschaft und Politik nur im Munde führen oder ob wir es wirklich leben. Danke für dieses klare Zeichen!

Es folgt aber noch etwas Zweites, das daraus folgt: Menschliches Leben darf nie nach den Maßstäben einer Konsumgesellschaft beurteilt werden.

Wir stehen hier gegenwärtig an einer Wegscheide, deren Bedeutung wir in ihrem Ausmaß noch gar nicht erkannt haben. Der Grund dafür sind zwei Entwicklungen, die gerade in ihrem Zusammentreffen eine ungeheure Brisanz beinhalten und die Würde menschlichen Lebens grundlegend in Frage zu stellen drohen. Die modernen Biotechnologien geben dem Menschen in nie dagewesener Weise Kontrolle über die Entstehung des Lebens. Die Entwicklungen sind rasant. Es erscheint in greifbarer Nähe, dass Menschen das Design des Lebens bestimmen oder jedenfalls maßgeblich mitbestimmen. Seit dem Jahr 2005, als der amerikanische Präsident in einer Pressekonferenz im Weißen Haus die Entzifferung des menschlichen Genoms bekannt gab, arbeiten Wissenschaftler daran, durch Veränderung der Gene menschliches Leben in die für richtig erachtete Bahn zu lenken.

„Today we are learning the language in which God created life” – dieser Satz stammt nicht etwa aus dem Munde eines Theologen. Er fiel am 25. Juni 2000 bei einer historischen Pressekonferenz in Washington. Am nächsten Tag zierte er die Headlines aller wichtigen Zeitungen in der Welt. Was war geschehen, dass das Wort „Gott“ einen so prominenten Stellenwert in der Öffentlichkeit eingeräumt bekam? Derjenige, der diesen Satz sagte, war der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton. Clinton sagte diesen Satz, als er zusammen mit Francis Collins, dem Leiter des Human Genom-Projekts, und seinem privatwirtschaftlichen Wettbewerber Craig Venter von der Firma Celeron Genomics in der Pressekonferenz im Weißen Haus die nahezu vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms der Öffentlichkeit bekannt gab. Die Pressekonferenz beendete ein in der Wissenschaft nahezu beispielloses Wettrennen um die Entzifferung des menschlichen Genoms. Das von vielen Regierungen der Welt finanzierte Human Genom-Projekt (HUGO) hatte sich als ehrgeiziges Ziel gesetzt gehabt, die Entzifferung des Genoms bis zum Jahr 2005 zu schaffen. Mit Hilfe der größten Computer Parks der Welt und der durch Celeron Genomics zusätzlich entfachten Dynamik unterschritt man den Zeitplan um 5 Jahre.

Was in Washington bekannt gegeben wurde, kann als Spitzenleistung der genetischen Biologie bezeichnet werden. Die Tatsache, dass dabei plötzlich das Wort „Gott“ ins Spiel kam, zeigt, dass bei der Feier dieser Spitzenleistungen ganz offensichtlich eine Ahnung davon erhalten geblieben war, wie wenig die naturwissenschaftlichen Formeln, die Sprachcodes des menschlichen Genoms, die die FAZ am nächsten Tag in mehreren Seiten Sonderbeilage wortwörtlich abdruckte, ausreichen, um dieses Phänomen zu beschrieben, was wir „Leben“ nennen. „Today we are learning the language in which God created life” – sagte Clinton, und fuhr fort: “We are gaining ever more awe for the complexity, the beauty, the wonder of God’s most divine and sacred gift.”[1] Das Staunen über die Komplexität des Lebens, der die Wissenschaftler auf die Spur gekommen waren, war der Tenor dieser Sätze.

Wenn wir sehen, wie durch neue gentechnische Möglichkeiten in der Medizin schweres menschliches Leiden überwunden werden kann, wird deutlich, dass die Menschen, die daran arbeiten, etwas tun, was in vieler Hinsicht christlichen Grundorientierungen entspricht. Einige der kraftvollsten Geschichten, mit denen Jesu Verkündigung des Reiches Gottes seine konkrete Konsequenz in der Lebenswelt der Menschen findet, sind die Geschichten von Jesu Heilung von an Leib und Seele kranken Menschen.

Gleichzeitig ist mit diesen modernen medizintechnischen Entwicklungen eine tiefe Ambivalenz verbunden. Möglicherweise stecken die größten Gefahren der Nutzung der neuen Biotechnologien nicht in der bewussten Konstruktion von neuen Menschen, die manche als Frankenstein-Horrorvisionen an die Wand malen. Möglicherweise ist das viel gefährlichere die schleichende Verfügbarmachung des Lebens, die Verbindung von Biotechnologie mit der modernen Konsumkultur.

Wer heute in den Supermarkt geht, um Kaffee zu kaufen, wird sich die Kaffeesorte aus dem Regal nehmen, die ihm am besten schmeckt. Und dagegen ist auch überhaupt nichts einzuwenden. Dass wir unter den verschiedenen Möglichkeiten diejenige wählen können, die uns am besten gefällt, kann, jedenfalls wenn daraus kein hemmungsloser Konsumismus wird, durchaus als Errungenschaft gesehen werden. Etwas entscheidend Neues kommt aber ins Spiel, wenn sich diese Möglichkeit der Auswahl nun erstmals auch auf die Entstehung des Lebens erstreckt. Genau dieses entscheidend Neue kommt durch die neuen Biotechnologien ins Spiel.

Dass es sich dabei keineswegs nur um eine Sorge im Hinblick auf die Zukunft handelt, sondern um tägliche Realität, kann jeder schnell erkennen, der sich im Internet umsieht. Wer auf die Internetseiten internationaler Fortpflanzungskliniken schaut (vgl. z.B. www.eggdonation.com), stößt auf das Ausmaß dieser schon heute international zu beobachtenden Kommerzialisierung. Mit einem gegen entsprechende Gebühr zu erwerbenden Passwort besteht etwa die Möglichkeit, Eizellen für eine künstliche Befruchtung auszuwählen und zu erwerben. Dazu wird ein genaues Profil der Spenderin gegeben, das Haar- und Augenfarbe ebenso enthält wie Zahnqualität, sexuelle Ausrichtung, Bräunungsfähigkeit, Körperfigur, psychische Grundstruktur oder Intelligenzquotienten. Die All-inclusive fee für den Erwerb von Eizellen liegt bei $18,500-$22,000.

Für eine Leihmutterschaft, also das Austragen des eigenen Kindes durch eine andere Frau, entstehen Kosten von 45 000 bis 50 000 Dollar, darin sind neben den medizinischen Kosten die Rechtsanwalts- und Psychotherapiekosten der Leihmutter ebenso eingeschlossen wie ihre Schwangerschaftskleidung.

Man muss sich natürlich angesichts des Unbehagens, das sich aufgrund einer solchen Ökonomisierung von Leben einstellt, klarmachen, dass die meisten Menschen, die diese Angebote nutzen, eine Leidensgeschichte ersehnter und dann doch versagter Elternschaft hinter sich haben. Aber auch wenn man der Versuchung vorschneller Diskreditierung oder gar Dämonisierung der neuen Möglichkeiten der Fortpflanzungstechnik widersteht, wird man um die Frage nicht umhin kommen, ob ein solcher Umgang mit menschlichem Leben oder seinen Bestandteilen als Ware eigentlich noch einer Sozialkultur entspricht, in deren Zentrum die Würde des Menschen steht. Der Kern des Würdebegriffs im Sinne Kants liegt ja genau in der Sperre gegenüber Verzweckung, Instrumentalisierung, Ökonomisierung.

Es hat seine guten Gründe, dass das deutsche Embryonenschutzgesetz von 1990 Eizellenspende und Leihmutterschaft verbietet und auch sonst gegenüber der Verzweckung menschlichen Lebens eine klare Sperre einbaut. Ich hoffe, das bleibt so.

Angesichts von neuen gendiagnostischen Möglichkeiten wie Präimplantationsdiagnostik (PID) und Bluttests zur Diagnose von genetischen Abweichungen sinkt die Schwelle für die Aussonderung  von entstehendem menschlichen Leben, das nicht als lebenswert angesehen wird. Es besteht die akute Gefahr, dass Eltern sich zukünftig immer mehr dafür rechtfertigen müssen, dass sie ein behindertes Kind annehmen und bejahen.

Bei der Entscheidung über solche Tests handelt es sich um mehr als um medizinische Klugheitsentscheidungen. Es geht dabei – so begrenzt der Anwendungsbereich dieser Technik auch ist – auch um die Zukunft unserer Sozialkultur. Sehen wir die immer größer werdenden technologischen Möglichkeiten, die Entstehung des Lebens unseren eigenen Zielen zu unterwerfen, als Freiheitsgewinn? Oder sehen wir die damit verbundene Gefährdung einer Sozialkultur, die menschliches Leben, auch da, wo es von der biologischen Norm abweicht, annimmt und als Teil der uns von Gott gegebenen Vielfalt bejaht?

Eine Religion, in deren Gottesverständnis in geradezu radikaler Weise das geschädigte, verletzte, gefolterte Leben eingegangen ist, ist hier parteilich. Wer Gott im Angesichte des Gekreuzigten erkennt, der wird sich auch dem Mitmenschen so zuwenden, dass dem Ja zu diesem Mitmenschen keine Zweckmäßigkeitserwägungen im Wege stehen. Nicht die Würdigkeit gibt den Ausschlag, sondern die Würde. Und diese Würde wird gerade dem beschädigten Leben zugesprochen.

Um sich das klar zu machen, muss man nur noch einmal den biblischen Bericht über die Erschaffung des Menschen vor Augen führen. „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei… Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde… Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut (Gen 1,27ff).

In diesen Worten wird jedem Menschen eine Würde gegeben, die es verbietet, ihn wegen seiner sozialen oder kulturellen Herkunft, seiner Rasse, wegen irgendwelcher biologischer Defizite oder wegen moralischen Versagens als Menschen abzuwerten oder gar aufzugeben. Gott hat die Welt geschaffen – aus reiner Liebe. Das ist das, was wir Christen glauben.

„Today we are learning the language in which God created life”. Was Bill Clinton auf jener Pressekonferenz im Weißen Haus sagte, enthält eine Weisheit, deren tiefer Sinn dem Präsidenten möglichweise gar nicht bewusst war. Mit der Sprache, in der Gott das Leben geschaffen hat, meinte Clinton Chromosomen, Zellkerne oder DNA.

Hätte die Bibel schon Chromosomen und DNA gekannt, sie wären dabei „mitgemeint“ gewesen. Sie wären als in die Sprache der Biologie gefasstes Medium und Ort für eine Wirklichkeit erschienen, die von Gottes Bejahung des Lebens geprägt ist. Diese Sprache, in der Gott das Leben geschaffen hat, ist die Sprache der Liebe.

Dass das, was die Bibel über die Schöpfung sagt, vielem entgegensteht, was wir jeden Tag erfahren, unterstreicht, dass der Satz des amerikanischen Präsidenten nur im Hinblick auf die Sprache des DNA  als Vollzugsmeldung gelesen werden darf. Im Hinblick auf die Liebe muss er zuallererst als Aufgabenbestimmung gelesen werden: „Heute lernen wir die Sprache, in der Gott das Leben geschaffen hat.“ Und – so muss man hinzufügen – wir haben noch lange nicht ausgelernt.

[1] Francis Collins, The language of God New York et al. 2006, 2f.